VON MUT UND ANGST

„Das finde ich ganz sch?n mutig von euch!“
Neben der Frage nach der Schulpflicht geh?rt dieser Satz definitiv zu den h?ufigsten Reaktionen auf unsere gro?e Reise. Wir bekommen ganz viel positive Rückmeldungen, aber tats?chlich hat es uns irgendwann auch verunsichert, dass immer wieder das Thema Mut aufkam. Denn wenn uns so viele für mutig halten – bedeutet das vielleicht, dass wir uns gerade in gro?e Gefahr begeben und es vor lauter Blau?ugigkeit selbst nicht erkennen k?nnen?
Dann haben wir angefangen, nachzufragen und tats?chlich meinen die meisten mit „mutig“, dass wir keine Angst vor den sogenannten und unz?hligen „Was passiert, wenn“ – Fragen zu haben scheinen. Also zum Beispiel…
„Was passiert, wenn jemand krank wird?“
„Was passiert, wenn euer Wohnwagen kaputt geht?“
„Was passiert, wenn ihr euch auf die Nerven geht?“
„Was passiert, wenn die Kinder keine Lust mehr haben?“
Auch wir lagen schon nachts wach und haben uns gefragt, ob wir diesen Schritt bereuen werden. Wir wissen es einfach nicht.
Mut ist relativ
Die Wahrheit ist doch, Mut ist relativ. Und Sicherheit auch. Vielleicht hat Mut in der Regel damit zu tun, sich nicht von der Angst vor Risiken, Fragezeichen und m?glichen Gefahren dirigieren zu lassen. Und für viele gilt es auch als mutig, einen Weg einzuschlagen, den noch kein Familienmitglied, Kollege oder Nachbar vorher gegangen ist. Trotzdem sind irgendwie auch jene Entscheidungen mutig, mit denen man vielleicht nicht gegen den Strom schwimmt, die einem selbst aber auch nicht gut tun. Wir kennen Menschen, die in einer unglücklichen Beziehung leben oder überwiegend schlecht drauf sind, weil sie seit Jahren frustriert im Job feststecken. Hier würde sich ein beherztes „Das finde ich aber mutig von dir!“ nicht richtig anfühlen. Und trotzdem denke ich passt es dort mindestens genauso gut. Denn ich halte es für mutig, sich bewusst dafür zu entscheiden, jahrelang unglücklich ins Büro zu schlurfen oder bis zum Schluss neben der falschen Person aufzuwachen. Warum? Deswegen zum Beispiel:
„Was passiert, wenn du es sp?ter ganz bitter bereust, nie etwas gewagt zu haben?“
„Was passiert, wenn du vor lauter Unzufriedenheit krank oder depressiv wirst?“
Jeder hat seine eigenen Grenzen
Genauso mutig finde ich es, ein Haus für viel Geld zu bauen, obwohl das Eigenkapital fehlt, die Kinder noch klein sind und jetzt schon kaum freie Zeit im Alltag bleibt. Dazu fallen mir viele „Was passiert, wenn’s“ ein. Und trotzdem nennt man Immobilienk?ufer selten mutig. Im Gegenteil. Für viele scheint das der einzig vernünftige und sichere Weg. Gerade jetzt, wo die Zinsen niedrig und die Mieten so hoch sind.
Sich in die ein oder andere Lage hineinzuversetzen kann man probieren. Aber jeder hat eben seine eigenen ?ngste und Grenzen. Die darf man teilen und erkl?ren, nur sollte man sie nicht auf andere projizieren. Der eine hat wahnsinnige Angst, im Alter nicht genug Rente zu bekommen und kann darum gut damit leben, jeden Tag im Büro die Z?hne zusammenzubei?en. Der andere stellt die pers?nliche Freiheit eben über die Sicherheit und hat sich aus dem Grund zum Beispiel ganz bewusst gegen das Beamtentum entschieden.
Ich pers?nlich glaube, Sicherheit ist eine Illusion und vor allem hierzulande so tief in den K?pfen verankert, dass Menschen oft lieber in den sauren Apfel bei?en als auch mal ein Risiko einzugehen. Niemand kann heute sagen, welche Versicherung er lieber noch h?tte abschlie?en sollen. Das ist auch gut so. Und vielleicht erreicht der eben beschriebene Mensch wegen tragischen Umst?nden gar nicht das Rentenalter und h?tte seine Zeit bis dahin viel besser nutzen k?nnen. Ob nun im Wohnwagen oder im Reihenhaus – wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, steht die Welt bei den meisten Kopf. Es ist vernünftig, sich auf manches vorzubereiten. Ich finde es aber grob fahrl?ssig, aus lauter Angst vor m?glichen Stolpersteine das Leben an sich vorbei rauschen zu lassen.
Vielleicht ist das Leben ja doch ein Ponyhof
Meine gr??te Angst ist in jedem Fall die Angst selbst. Sie macht, dass Tr?ume verschoben und Ideen begraben werden. Auch wir haben lange gebraucht, um zu realisieren, dass alle Türen offen stehen und keiner „muss“. Zum Beispiel ist „Das Leben ist kein Ponyhof“ eine typisch deutsche Redewendung. Aber wer hat das eigentlich entschieden? Wenn du Lust auf Ponyhof hast, kannst du jederzeit die Weichen dafür stellen. Der Montag muss gar nicht furchtbar und der Sommerurlaub nicht die einzig unbeschwerte Zeit des Jahres sein.
Vielleicht ist es ja Mut, genau diesen Gedanken zuzulassen.
Ich habe eure Gedanken über Mut und Angst sehr aufmerksam gelesen und finde sie gut.
Bei mir hat mein Sicherheitsbedürfnis und meine Existenz?ngste stets die Oberhand behalten.
Ich wünsche euch für eure Reise alles erdenklich Liebe und Gute und freue mich, dass ihr mich daran teilhaben lasst.
Lieber Jean, danke für deine Zeilen und guten Wünsche. Das Sicherheitsbedürfnis an sich ist ja auch eine sehr gute Sache, nur eben nicht bei uns so stark ausgepr?gt. Sei ganz lieb gegrü?t.
Ihr Lieben, nun habe ich es leider nicht mehr geschafft, mich ordentlich von euch zu verabschieden. ?ber meine Gedanken konnten wir uns ja noch ausführlich im Wasser unterhalten. Sie und meine hoffentlich guten Wünsche sollen euch lange begleiten. Ich freue mich schon, bald mal wieder von euch zu h?ren. Trotzdem schade, dass ihr nun immer weiter entfernt sein werdet.
Alles, alles Liebe! Irmgard
Dank dir, liebe Irmgard!! Für deine guten Wünsche und lieben Worte. Wir bleiben in Kontakt!